Der Legende nach sei Venedig am 25. März 421 gegründet worden. Wenn wir daher im Jahr 2021 das verstandesmäßig kaum fassbare 1.600-jährige Bestehen der Lagunenstadt feiern, stellt sich unwillkürlich die Frage nach ihrer – die Phantasie ebenso herausfordernden – Zukunft. Denn die Probleme, das als ‚Overtourism‘ bezeichnete Mobilitätsphänomen und die mit ihm eng zusammenhängenden Gefährdungen der sozialen, kulturellen und natürlichen städtischen Umwelt, sind existentiell. Einfache Lösungen gibt es nicht.
Und doch: Wenn es richtig ist, in Anlehnung an Ernst Bloch zu glauben, dass in der ‚Welt zu finden ist, was der Welt hilft‘, so vermag Venedig eine damit verbundene Lust auf die Zukunft einzugeben wie wohl kaum ein zweiter Ort des Planeten. Denn wie kaum ein anderer Ort führt die ins Wasser gebaute Stadt das menschliche Streben nach dem Möglichen vor Augen, den Willen und die Fähigkeit, das Vorhandene gleichzeitig zu bewahren und darüber hinauszugehen: Sie zeigt durch ihre bloße Existenz, wie Menschen an sich unabänderliche Realitäten – den Gegensatz von Land und Wasser – durch Bemühen um darin enthaltene Spielräume gestalten, ja überwinden und respektieren können. Ist die Vorstellungskraft hinsichtlich des Möglichen gemeinsam mit der Achtung vor dem Gegebenen gewissermaßen in die venezianische Topographie eingeschrieben, so kann als Emblem dieser Haltung die Brücke begriffen werden. Allgegenwärtig, halten Brücken in unzähligen verschiedenen Formen den städtischen Raum zusammen – indem sie Gegensätze oder Verschiedenheiten gleichermaßen überwinden wie erhalten.
Verbindungen und Vielfalt erschaffend, sind Brücken eine der eindrucksvollsten Manifestationen dessen, was der Welt derzeit unter bestimmten Bedingungen am unschädlichsten helfen könnte: Kommunikation.
Vieles deutet darauf hin, dass die globale Zukunft und mit ihr auch jene Venedigs – das, wie nicht zuletzt die pandemiebedingte Gesundheitskrise bestätigt, bei aller Singularität doch als paradigmatischer Ausschnitt der globalisierten Welt betrachtet werden kann – maßgeblich von der Kommunikationsfähigkeit der handelnden großen und kleinen Akteure in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens abhängen wird. Als entscheidend dürfte sich erweisen, ob die gegenwärtige Tendenz zur Einnahme polarisierender Standpunkte durch eine Zunahme gelingender Kommunikation durchbrochen werden kann. Das gilt insbesondere für den Diskurs über die ebenso problematischen wie vielschichtigen Zusammenhänge, die sich in den extremen und dringend neu zu reflektierenden Formen der globalisierten Mobilität – der Migration und dem Tourismus – niederschlagen.
Ausgehend von dieser Beobachtung, macht es sich das Deutsche Studienzentrum in Venedig auch im Rahmen des Forschungs- und Veranstaltungsthemas 2021–22 zur Aufgabe, durch interdisziplinäre, künstlerische und kulturwissenschaftliche Arbeit sowie interkulturelle Begegnungen zu einer Differenzierung der Stimmen über Venedig beizutragen. Durch unsere wissenschaftlichen Vorträge, künstlerischen Veranstaltungen, Tagungen, Gesprächsrunden, Exkursionen und Studientage möchten wir sowohl aus der Stadt als auch mit ihr sprechen, sowohl die Innen- als auch die Außensicht in die Diskussion einbringen. Zunutze machen wollen wir uns dabei den interdisziplinären Zuschnitt unserer Einrichtung – in der Überzeugung, dass die historischen und kultursemiotischen Perspektiven der am Institut studierten, erprobten und entwickelten Wissenschaften, u. a. der Geschichte und Kunstgeschichte, der Musik- und Literaturwissenschaft, ebenso wie die Zugänge der bei uns tätigen Kunstschaffenden im Bereich der Bildenden Künste, der Architektur, der Literatur, und der Musik, daran mitwirken können, das Bewusstsein für die gestaltende Kraft des Kommunizierens zu schaffen und zu stärken. Von Selbst- und Fremdbildern über Identitäten, deren Konstruktionen, Ausdrucksformen und Konflikte bis hin zur sozialen, kulturellen und wissenschaftlichen Interaktions- und Innovationsfähigkeit umfassen Kommunikationsakte eine Reihe der die Welt und Venedig derzeit bewegenden Fragen. Ebenfalls können das interkulturelle wie das interdisziplinäre Kommunizieren selbst einer Betrachtung unterzogen werden, um die eigenen Voraussetzungen zu konturieren und mit ihnen das methodische Bewusstsein zu schärfen. Gerade weil ‚man nicht nicht kommunizieren kann‘ (Paul Watzlawick), scheint es mehr denn je geboten, die Elemente fruchtbarer Kommunikation zu reflektieren, um ihre destruktiven Erscheinungsformen ebenso zu analysieren wie ihre brachliegenden Optionen zu entfalten. Die Beobachtung der venezianischen Brücken kann dabei in mannigfaltiger Weise helfen. Die Beobachtung der venezianischen Brücken kann dabei in mannigfaltiger Weise helfen.
1 Vgl. das Einleitungskapitel in Ernst Blochs philosophischem Hauptwerk: Das Prinzip Hoffnung, In fünf Teilen, Kapitel 1-32, in: Werkausgabe, Bd. 5, Frankfurt/Main 2019, S. 1-18.